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Ausgabe:

Februar/2006

Spalte:

129–140

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Wüstenberg, Ralf K.

Titel/Untertitel:

Bonhoeffer »revisited« Zur Bedeutung der »nichtreligiösen« Interpretation im 21. Jahrhundert

Aus dem Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis Berlin-Tegel schreibt Dietrich Bonhoeffer im Mai 1944 an seinen Freund Eberhard Bethge: »Ich denke augenblicklich darüber nach, wie die Begriffe Buße, Glaube, Rechtfertigung, Wiedergeburt, Heiligung, weltlich … umzuinterpretieren sind. Ich werde Dir weiter darüber schreiben.«1 In der anschließenden theologischen Korrespondenz finden sich die berühmten Formulierungen von der »religionslosen Zeit«, der wir entgegen gehen, und von der »mündigen Welt«, die auch ohne den »Vormund Gott« existieren kann. Mit diesen Formulierungen möchte Bonhoeffer eine Interpretationsform schaffen, in der Christus wirklich wieder Herr der Welt wird. Diese Form der Interpretation, nach der Religion nicht mehr zur Vorbedingung des Heils werden soll, nennt Bonhoeffer eine »weltliche« oder auch »nichtreligiöse« Interpretation.
Damit ist keine abstrakte Interpretationsform gemeint; vielmehr hat Bonhoeffer die nichtreligiöse Interpretation der biblischen Begriffe vor Augen. Was heißt aber nichtreligiös interpretieren? Sind wir zu Beginn des 21. Jh.s wirklich religionslos geworden? Wie wäre dann die Rückkehr des Religiösen zu erklären? Ist die These von der Religionslosigkeit nicht zumindest empirisch widerlegt? Um sich diesen Fragen zu nähern, ist eine Analyse des Religionsverständnisses Bonhoeffers nötig. Es müsste zumindest geklärt werden, welcher Religionsbegriff der Tegeler Theologie zu Grunde liegt. Zu diesem Thema aber schweigt die im Übrigen beredte Literatur.2
In den meisten Studien sind eher die Probleme illustriert als tragfähige Analysen vorgelegt worden. So wird Bonhoeffer, der eine religionslose Zeit voraussagt, von den einen als ›Atheist‹ (A. MacIntyre)3 oder als ›Säkularer‹ (A. Loen)4 bezeichnet, um von den anderen als ›Urfrommer‹ (B. Jaspert)5 oder ›religiöse Natur‹ (J. MacQuarrie)6 tituliert zu werden; wieder andere haben in ihm den ›Vater-der-Gott-ist-tot-Theologie‹ gesehen (W. Hamilton et al.)7. Oder war er ein ›Gnostiker‹ (C. B. Armstrong, M. D. Hunnex)8, ein ›Sprachanalytiker‹ (P. van Buren)9, ein ›Hermeneutiker‹ (zuletzt K.-M. Kodalle)10, ein ›Konservativer‹ (E. C. Bianchi)11 oder bloß ein ›Rezipient‹ (G. Krause)12? Redet er gar ›der Selbstsäkularisierung des Protestantismus das Wort‹13?
Wir könnten diese Auflistung fortsetzen, beschränken uns je doch auf einige pointierte Meinungen. Sie mögen einen Querschnitt der verschiedensten Formen von Deutungen bieten, die immer dann auftreten, wenn Bonhoeffer entweder von einer bestimmten theologischen Schule aus oder von der jeweiligen religiösen oder säkularen Lage der Zeit her interpretiert wird. Dabei ist durch Jahrzehnte hindurch auf Fehlinterpretationen hingewiesen worden.14

Der britische Barth-Forscher T. F. Torrance15 hat das Desaster in der Bonhoeffer-Interpretation schon früh auf den Punkt gebracht: »Yet the tragedy of the situation is that in the malaise of recent years instead of really listening to Bonhoeffer, many German thinkers and writers and Churchmen have come to ›use‹ Bonhoeffer for their own ends, as a means of objectifying their own image of themselves. And they have been aided and abetted in this by people in Britain and the U. S. A. In this way Bonhoeffer’s thought has been severely twisted and misunderstanding of him has come rife, especially when certain catch-phrases like ›religionless Christianity‹ and ›wordly holiness‹ are worked up into systems of thought so sharply opposed to Bonhoeffer’s basic Christian theology, not least his Christology.«

Wo die christologische Mitte bei Bonhoeffer nicht gesehen wird, da wird er insgesamt fehlinterpretiert – auch und gerade im Hinblick auf die »nichtreligiöse Interpretation«. Und so hat sich G. Ebelings16 Mahnung, dass die »nichtreligiöse Interpretation … für Bonhoeffer nichts anderes als christologische Interpretation« sei, als Grundeinsicht über fünf Jahrzehnte in der Bonhoeffer-Forschung erhalten. Nahezu jede ausgewiesene Publikation zitiert Ebelings Formel, doch bleibt ihre Konkretion aus: Wenn nichtreligiös christologisch interpretieren heißt, was meint dann diese Interpretation konkret?
Um diese Frage soll es im Folgenden gehen. Ihre Beantwortung führt uns zunächst in die werkimmanente Prüfung: Was sagt Bonhoeffer selbst zum Thema Religion? Bildet er überhaupt einen Religionsbegriff aus, über den wir Hinweise auf die Bedeutung von Religionslosigkeit erhalten würden? Die immanente Analyse (s. I) führt zu dem bisher kaum diskutierten Problem eines kohärenten Religionsbegriffs im Werk Bonhoeffers und dann, im zweiten Schritt (s. II), in entstehungsgeschichtliche Fragen: Woher kommen Religionskritik und die These von der Religionslosigkeit? Was hat Bonhoeffer im Gefängnis studiert, als er seine Forderungen zu Papier brachte? Die werkimmanente und rezeptionsgeschichtliche Betrachtung erlaubt schließlich zu fragen, was Bonhoeffer mit der nicht-religiösen Interpretation biblischer Begriffe konkret wollte (s. III) und ob seine These von der Religionslosigkeit heute noch Bestand hat (s. IV).

I. Problemanzeige: Religionsbegriff bei Bonhoeffer?

Überblickt man sämtliche Aussagen Bonhoeffers über Religion, so lassen sich formal drei Gruppen von Religionsdeutungen unterscheiden: Vor der Entdeckung der Dialektischen Theologie stehen 1. religionswürdigende Aussagen im Vordergrund. Positive Auffassungen von Religion finden sich in Seminararbeiten und Referaten seiner Studentenzeit.17 Seit der Entdeckung und der literarischen Verarbeitung Karl Barths begegnen dann 2. religionskritische Aussagen, die sich in seiner Dissertation »Sanctorum Communio« erstmals breiter aufweisen lassen.18
Das Jahr 1927, in dem »Sanctorum Communio« erschien, markiert chronologisch eine Wende von der Religionswürdigung zur Religionskritik, die in den Folgejahren die bestimmende Deutung von Religion bleibt. Aus der Religionskritik folgert Bonhoeffer 1944 die nichtreligiöse Interpretation, mit der er schließlich 3. die Religionslosigkeit postuliert: Religion wird nicht nur (systematisch-theologisch) kritisiert, sondern die Zeit von Religion sei (historisch) abgelaufen.
Religionswürdigung, Religionskritik und Religionslosigkeit sind die drei Aussageformen von Religion im Gesamtwerk Bonhoeffers.19 Keine von ihnen wird in sich systemhaft ausgebildet, noch lassen sie in ihrer Trias eine Theorie von Religion erkennen. Die drei Religionsdeutungen folgen vielmehr lose auf einander, wonach Bonhoeffer Religion zunächst würdigt, dann kritisiert, um schließlich die nichtreligiöse Interpretation der biblischen Begriffe zu folgern. Auch diese chronologische Abfolge darf nicht gepresst werden: So äußert sich Bonhoeffer auch vor 1927 vereinzelt religionskritisch; andererseits kann er noch 1944 vom Christentum als wahrer Religion sprechen. In der »dialektisch-theologischen Phase« kommen also Elemente einer Religionsbetrachtung vor, die chronologisch gesehen in die Zeit vor 1927 fallen müssten und damit in das Erbe der Liberalen Theologie.
Würdigende Äußerungen, kritische und solche über Religionslosigkeit folgen nicht nur entwicklungsgeschichtlich aufeinander, sondern begegnen auch systematisch nebeneinander. Dietrich Bonhoeffer operiert mit dem Wort Religion in einer Weise, die eine inhaltliche Bestimmung schwer macht – oft auch gar nicht sucht. Religion wird zu einer formalen Negativfolie, auf der dann andere wichtige Gedanken inhaltlich expliziert werden. Bonhoeffer erklärt schon 1931 unter dem Ein druck von Karl Barth, dass es »keinen allgemeinen Begriff von Religion mehr geben«20 kann.
An der Stelle eines theologisch reflektierten Religionsbegriffs finden sich bei Dietrich Bonhoeffer regulative Vorstellungen über Religion, wie:
– Religion rede von Gott bloß »an den Rändern«,
– Religion habe nur mit den »letzten Fragen« des Menschen
zu tun,
– Religion richte sich allein auf die »Innerlichkeit« und das »Gewissen« von Menschen.
Bonhoeffer integriert Religion nicht systematisch in seine Theologie und unterscheidet sich darin u. a. von Karl Barth, der mit der Kirchlichen Dogmatik wieder am Religionsbegriff festhält.21 Wird Religion kritisiert, so ist nach Bonhoeffer aber die Konsequenz, ohne Religion von Gott zu reden. Bei Bonhoeffer verflüchtigt sich Religion aus dem theologischen Denken. Wo gewöhnlich Religion den Ort im System einer regulären Dogmatik einnimmt, da fragt der irreguläre Dogmatiker: »Was bedeutet in der Religionslosigkeit der Kultus und das Gebet?« (WEN 306). Bonhoeffer beantwortet seine Frage mit dem Hin weis auf die altkirchliche Arkandisziplin; er empfindet offenbar selbst, dass eine Lücke entsteht, wo in der Religionslosigkeit religiöse Inhalte den angestammten Ort verlieren. Was sich mit dem Phänomen Religion verbindet, also etwa der Kultus oder das Gebet, soll deshalb der Arkandisziplin unterworfen werden. Religionslosigkeit meint also phänomenologisch die Ortslosigkeit von Religion.
Religiöse Inhalte sollen nicht aufgegeben, sondern angebetet und vor Profanierung geschützt werden; an Stelle von geschwätziger Religiosität fordert Bonhoeffer »qualifiziertes Schweigen«. Der Verherrlichung des Geheimnisses der Person Christi in Gebet und Gottesdienst entspricht nach außen die verantwortliche Tat, so dass die Arkandisziplin ihren »dialektische(n) Kontrapunkt«22 in der nichtreligiösen Interpretation findet. Arkanum und Religionslosigkeit verhalten sich zueinander wie »das Beten und Tun des Gerechten« (WEN 328). Das anbetende Schweigen vor dem Heiligen einerseits und das nichtreligiöse Bekennen vor der Welt andererseits gehören als die zwei Seiten des christlichen Lebens für Bonhoeffer untrennbar zusammen.
Als erstes Ergebnis halte ich fest: Dietrich Bonhoeffer definiert Religion weder begrifflich noch entwickelt er eine geschlossene Religionstheorie. Dieser Befund hat methodische Konsequenzen. Möchte ich seine Aussagen über Religionslosigkeit verstehen, so kann dies nicht unmittelbar über die Schriften Bonhoeffers gelingen, sondern nur mittelbar über die den Quellen zu Grunde liegenden Bezüge. Die Frage lautet daher: Woher kommt die Rede von der Religionslosigkeit?

II. Wie kommt es zur »nicht-religiösen« Interpretation?

Der junge Religionskritiker Bonhoeffer ist von Karl Barth her zu verstehen. Seine Barth-Rezeption setzt mit dem Sammel-Band Das Wort Gottes und die Theologie ein. Hierin stellt der Wort-Gottes-Theologe fest: »Jesus hat mit Religion einfach nichts zu tun.«23 In der zweiten Auflage des Römerbriefkommentars von 1922 wird der Gegensatz von Glaube und Religion als Kritik des Wortes Gottes an der religiösen Möglichkeit des Menschen vertieft. Der »Freiheit Gottes«24 steht die »Religion« des Menschen entgegen, in der die »Sünde zur anschaulichen Gegebenheit wird«. Religion ist für Barth »ausbrechender Dualismus«, das »Negative« der Gnade.
Der Student Dietrich Bonhoeffer nimmt in Referaten der Jahre 1925/26 gelegentlich Bezug auf Barths Römerbriefkommentar, dessen Unterscheidung von Glaube und Religion wegweisend bleibt. 1927 lassen sich neben Karl Barth deutliche Spuren Albrecht Ritschls wahrnehmen.25 Dialektische und Liberale Theologie stehen noch unverbunden nebeneinander. Erst mit seiner Habilitationsschrift, in der er mit dem religiösen Apriori seiner Lehrer bricht,26 wird Bonhoeffer Ende der 20er Jahre zum Barthianer. Bonhoeffer liest und rezipiert neben dem Römerbriefkommentar auch Barths Unterricht in der christlichen Religion von 1924 und die Christliche Dogmatik im Entwurf von 1927. Er kritisiert wie Barth das neuzeitliche Verständnis von Religion; der Religionsbegriff sei von den englischen Deisten in die Theologiegeschichte eingebracht worden, um von der Dialektischen Theologie wieder vertrieben zu werden.27 Was die Reformatoren Glauben nennen, sei seit dem 17. Jh. durch einen Religionsbegriff ersetzt worden, der schließlich am deutlichsten in der Liberalen Theologie des 19. Jh.s Ausdruck gefunden habe: Die Theologie sei zur Anthropologie geworden.
Insgesamt zeigt sich: Jede religionskritische Aussage kann auf Karl Barth zurückgeführt werden. Die Religionskritik, die Bonhoeffer von Barth lernt, ist eine Kritik des Wortes Gottes an der Religion. Stammt die Religionskritik von Barth, so ist nun zu fragen, wie es zur These von der Religionslosigkeit kommt.
Einer Beantwortung der Frage kommen wir m. E. über die Philosophie-Rezeption Bonhoeffers näher.28 Nach dem Neukantianismus, der mit der Dialektischen Theologie Einzug in sein philosophisches Denken nimmt, entdeckt Bonhoeffer 1930 in den USA den amerikanischen Pragmatismus; von hier aus eröffnet sich eine neue Dimension der Philosophie-Rezeption, nämlich die der Lebensphilosophie. Mit dem Pragmatismus verbindet sich aber eine positive Religionsauffassung.29 Ob Religion wahr ist, entscheidet sich an ihrer Wirksamkeit im Leben. Religion und Leben kann Bonhoeffer aber nicht gleichsetzen, weil Religion für William James mit »Innerlichkeit« verbunden ist. Er wendet seine Religionskritik auf den Religionsbegriff von James an.30 Dennoch ist der Pragmatiker James als Lebensphilosoph 1930 Wegbereiter für die Rezeption von Diltheys Historismus 1944.31
Dietrich Bonhoeffer hat im Frühjahr 1944 den umfänglichen zweiten Band der Gesammelten Schriften Wilhelm Diltheys32 nach Tegel bestellt und den Historismus über Monate studiert. Wer die Tegeler Briefe auf die Verwendung von Religion hin liest, dem fällt auf, dass Bonhoeffer auch hier nicht systematisch von Religion spricht, sondern historisch von der Zeit der Religion. Er entwickelt auch hier keinen Begriff von Religion, der dann kritisiert würde, sondern charakterisiert »die Zeit von Religion« als »Zeit der Innerlichkeit und des Gewissens«, die nun abgelaufen sei.
Bonhoeffer möchte von Gott ohne Religion reden, eben religionslos. Ein religiöses Gottesverständnis wird durch die Begriffe Metaphysik und Innerlichkeit kritisiert. Woher kommen die Begriffe Metaphysik und Innerlichkeit? Wenn man die Briefe, die parallel zur Dilthey-Lektüre verfasst wurden, betrachtet, so zeigen sich viele parallele Gedanken, die manchmal sogar wörtlich mit Dilthey übereinstimmen. So Gedanken über eine mündig gewordene Welt, Diltheys philosophische Kritik an der Metaphysik und seine Rede von der Innerlichkeit. Auch der Begriff religionslos ist schon bei Dilthey belegt: Religionslosigkeit er hält bei Bonhoeffer interessanterweise eine andere inhaltliche Bedeutung; ein »religionsloser Zustand« ist für Dilthey historisch ausgeschlossen,33 weil er Religion konsequent aus der Geschichte versteht: Religion ist das Verhältnis der Menschen zu einem letzten wirkenden Ganzen, eine Auffassung, die ihn im 19. Jh. einerseits mit F. Schleiermacher und andererseits mit W. James verbindet.
In der kritischen Anwendung des Begriffs religionslos durch Dietrich Bonhoeffer zeigt sich nun zweierlei: Zum einen wendet Bonhoeffer Barths Religionskritik auch auf Diltheys positiven Religionsbegriff an, d. h. der konstruktive Impuls der Religionskritik Barths wird bis in die Tegeler Theologie durchgehalten. Zum anderen wendet Bonhoeffer Diltheys Historismus und damit seine These von der Mündigkeit auf dessen Religionsbegriff an und weist ihn einer bestimmten geschichtlichen Epoche zu, die nun vorüber ist: Die Menschen können, weil sie mündig geworden sind, nicht mehr religiös sein. Bonhoeffer nimmt also den religionskritischen Impuls der Dialektischen Theologie auf und verbindet ihn 1944 mit dem Historismus Diltheys. Zur Formulierung einer nichtreligiösen Interpretation bedarf es aber sowohl des religionskritischen Impulses als auch der historistischen Betrachtung von Religion. Wir haben gesehen, woher die nichtreligiöse Interpretation rezeptionsgeschichtlich kommt und fragen jetzt nach dem Gehalt dieser Interpretation.

III. Was heißt »nicht-religiös« interpretieren?

Dietrich Bonhoeffer hat Religion vom Glauben her kritisiert. Nun, in der Tegeler Theologie, schreibt er: »Der religiöse Akt ist etwas Partielles, der Glaube … ein Lebensakt« (WEN 396). Der Glaube wird als Lebensakt ausgelegt. – Weiter heißt es: »Jesus ruft nicht zu einer neuen Religion auf, sondern zum Leben« (ebd.). Der Glaubensbegriff wird in bestimmter Weise als Lebensbegriff interpretiert. Bonhoeffer formuliert zum Beispiel in der »Ethik«: »Jesus ist nicht ein Mensch, sondern der Mensch.«34 In Tegel nimmt er exakt diese Formulierung aus der Gestaltethik auf und wendet sie religionskritisch: »Christsein heißt nicht … religiös sein, sondern … Menschsein, nicht einen Menschentypus, sondern den Menschen schafft Christus in uns« (WEN 395). In Formulierungen wie diesen liegt das Neue von »Widerstand und Ergebung« in der religionskritischen Erweiterung eines christologischen Urteils. In der Beurteilung von Mündigkeit und Autonomie der Welt geht Bonhoeffer weiter. Während in der Ethik der Prozess des Autonomiegeschehens zum Nihilismus führe,35 wird die Autonomie der Welt, der Menschen und des Lebens positiv beurteilt, die Mündigkeit wird bejaht. Bonhoeffer hat sich im Herbst 1943 verschiedene Schriften des spanischen Kultur- und Lebensphilosophen José Ortega y Gasset nach Tegel bestellt. Den Diltheyschen Grundsatz, was der Mensch ist, sagt ihm seine Geschichte,36 lernt Bonhoeffer bei Ortega y Gasset kennen. Das mehrmonatige Dilthey-Studium des Frühsommers 1944 ist in einer bestimmten Weise vorbereitet: Bonhoeffer lernt Dilthey als Lebensphilosophen kennen; er spricht auch von der »Polyphonie des Lebens«37.
Beim Studium des Dilthey-Bandes wird Bonhoeffer nun die große historische Entwicklung vor Augen geführt, die dem Menschen Autonomie und Mündigkeit in der Neuzeit gebracht hat. Auf welchen Gebieten auch immer Dilthey das Streben nach Mündigkeit oder Autonomie beobachtet, stets geht er vom gelebten Leben der Menschen in ihrer Epoche aus. In Begriffsbildungen wie Lebensgefühl, Lebensführung, Lebenshaltung oder Lebensstimmung entfaltet Dilthey seine Lebensphilosophie.38 So sei zum Beispiel Petrarca »der originalste Lebensphilosoph« gewesen, weil er »alle scholastischen Spinnewebe für einen Moment vollen Lebens hinzugeben bereit war« (20). Der Gegensatz zum Leben ist für Dilthey die Metaphysik, eine Grundeinsicht, die er in immer neuen Beispielen aus der Geschichte durch den Band hindurch aufzeigt. Die Metaphysikkritik ist begründet in der erkenntnistheoretischen Grundlegung seiner Lebensphilosophie: Hinter das Leben kann man nicht zurück. Hat Bonhoeffer die Metaphysikkritik von Dilthey, so ist ihm auch der Lebensbegriff wichtig geworden.
Im Brief vom 8. Juni 1944 zeigt Bonhoeffer unter Bezug auf Dilthey, wie sich das Autonomiestreben des Menschen auf den Gebieten der Moral und des Rechts entwickelt hat. Am Beispiel der Autonomie von Moral zeigt sich die genaue Dilthey-Lektüre. »In der Moral« – so schreibt Bonhoeffer – seien »anstelle der Gebote Lebensregeln« aufgestellt worden (WEN 393). Bonhoeffer entgeht also nicht, dass Diltheys Historismus auf dem Verständnis von Leben gründet: Nicht eine Moralvorstellung schlechthin ist autonom geworden, vielmehr ist die Lebensmoral nicht mehr an Gebote gebunden. Bonhoeffer spricht auch nicht von Autonomie an sich, sondern von der Autonomie der Menschen (WEN 356) oder der Autonomie der Welt (WEN 392). Was für die Moral gilt, das gilt auch auf dem Gebiet der Jurisprudenz. In der Darstellung Diltheys sind die Rechtsbegriffe des Hugo Grotius Lebensbegriffe; sie haben ihre Gültigkeit unabhängig einer teleologischen Ordnung, d. h. sie gelten »auch wenn es keinen Gott gäbe«.39 Bonhoeffer erkennt unter Zitation Diltheys, »daß wir in einer Welt leben müssen – etsi deus non daretur« (WEN 394). Wieder im Rückgriff auf Dilthey schreibt er am 21. Juli aus Tegel, »daß man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt« (WEN 401). Auch hier ist zu beobachten: Bonhoeffer spricht nicht von Diesseitigkeit an sich, sondern qualifiziert den Historismus im Lebensbegriff: Diesseitigkeit des Lebens.
Der Lebensbegriff ist aber christologisch qualifiziert. Es geht Bonhoeffer nicht »um die platte und banale Diesseitigkeit der Aufgeklärten, sondern um die tiefe Diesseitigkeit, in der die Erkenntnis des Todes und der Auferstehung immer gegenwärtig ist« (WEN 401). So unterscheidet sich Bonhoeffer von der Lebensphilosophie und interpretiert das Leben christologisch. Philosophisch betrachtet ist das Leben mehrdeutig; eindeutig wird es erst im Blick auf Jesus Christus. Bonhoeffer nimmt den Lebensbegriff von Dilthey auf und wendet ihn theologisch. Leben schließt die Teilnahme am Leiden Gottes in der Welt ein. Bonhoeffer ruft dazu auf, »im diesseitigen Leben Gottes Leiden« mitzuleiden (WEN 402). Wo diese Teilnahme ausbleibt, ruft die Bibel zur Buße. Wo die Teilnahme am Sein Jesu und damit das Dasein für andere fehlt, bleibt die Redlichkeit vom Glauben als Leben aus. Der biblische Begriff Buße meint deshalb nichtreligiös interpretiert »letzte Redlichkeit« (WEN 394) – letzte, weil sie im Glauben als der Teilnahme am Sein Jesu getroffen wird, einem Glauben, der nach Bonhoeffer »die Inanspruchnahme des irdischen Lebens für Gott« (WEN 406) bedeutet.
Nicht-religiös zu interpretieren, meint: nicht im Sinne von Religion interpretieren. Und der Gegensatz zu Religion ist in den Tegeler Briefen das Leben; aus dem »Glauben als Teilnahme am Sein Jesu« folgt für Bonhoeffer das »Leben als Dasein für andere« (WEN 414). Und so muss Gerhard Ebelings Formel von der nichtreligiösen als christologischer Interpretation auf den Lebensbegriff hin konkretisiert werden: Die nichtreligiöse Interpretation ist eine lebenschristologische Interpretation, die mündiges Leben und christlichen Glauben zueinander in Beziehung setzt.

IV. Ist Bonhoeffers Rede von der historisch erledigten Religion selbst historisch?

Vieles spricht dafür, dass es seit längerem einen Paradigmenwechsel in der Bonhoefferinterpretation gibt,40 wonach mindestens die These von der Religionslosigkeit angesichts der Rück kehr von Religion auch in Kirche und Theologie nicht mehr selbstredend ist. »Es ist an der Zeit«, so der bedeutende Bonhoeffer-Interpret Christian Gremmels jüngst, »diese Debatte neu zu eröffnen.«41
Wo zu dieser Debatte vom Ergebnis der vorangegangenen Analyse beigetragen wird, muss bedacht werden, dass »Religion« im theologischen Entwurf Bonhoeffers kein tragendes Konzept ist. Nicht Religion und schon gar nicht eine geschlossene Theorie der Religion geben die entscheidende Richtung vor. Stattdessen liegt im Lebensbegriff die Stoßrichtung der sog. nichtreligiösen Interpretation; und hier müsste eine weiterführende Debatte in Theologie und Kirche ansetzen. Auf zwei Implikationen einer nichtreligiösen als lebenschristologischer Interpretation möchte ich – wenigstens thetisch – hinweisen:
1. Die politische Implikation einer »nichtreligiösen« Interpretation – oder: Die Bedeutung der »vorletzten Dinge«
Die vorgetragene Analyse der nichtreligiösen Interpretation unterstrich die Bedeutung der »vorletzten Dinge« bei Bonhoeffer. Lebenschristologisch sollte im Diesseits, gerade auch im Leiden von Gott gesprochen werden. Die »vorletzten Dinge« werden nicht vorschnell übersprungen und der Mensch an die »letzten Dinge« verwiesen.
Nichtreligiöse Interpretation hat mit dem Diesseits, dem gelebten Leben und dem Leiden zu tun, das die Heilsbedeutung aus dem Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu von Nazareth gewinnt. Eine religiöse Interpretation hat dagegen für Bonhoeffer mit dem Jenseits zu tun, dem Überspringen des »Vorletzten«, der Verweigerung von Leiden als Dimension des christlichen Lebens. In der skizzierten theologischen Ausrichtung bleibt das Unternehmen »nicht-religiöse« Interpretation auch für die politische Ethik bedeutend: Die religiöse Überhöhung des Politischen (im Sinne »letzter Dinge«) scheidet nämlich aus. Alles Politische gehört immer zu den »vorletzten Dingen«. Bonhoeffer trägt mit seinem Entwurf einer nichtreligiösen Interpretation zur qualitativen Schärfung jeder neuen Rede von der Religion bei, auch der politischen. Es sollte keiner Verabsolutierung der »vorletzten Dinge« zugearbeitet noch die religiöse Aufladung des Politischen theologisch legitimiert werden – ob im nationalsozialistischen Kontext oder da nach.42
Die bleibende Bedeutung der nichtreligiösen Interpretation liegt in der doppelten Würdigung der »vorletzten Dinge«, das heißt a) theologisch: kein vorschnelles Überspringen der »vorletzten Dinge«, also keine Jenseitsvertröstung, die das Leiden aus dem Blickfeld verlöre; b) ethisch: keine religiöse Überhöhung der »vorletzten Dinge«, etwa des Politischen, durch religiöse Aufladung.
2. Die religionstheoretische Implikation – oder: Glauben und Religion sind keine Gegensätze mehr
Verwirrend war und bleibt die Vokabel Religion in Bonhoeffers Tegeler Theologie als Gegenstück seines lebenschristologischen Entwurfs. So bleibt die kritische Rückfrage, welche Aussagekraft die nichtreligiöse Interpretation angesichts der Rückkehr des Religiösen haben kann.
Um in dieser zentralen Frage nicht vorschnell zu urteilen, sollte auf der Grundlage der vorangegangenen Analyse zweierlei bedacht werden: a) Religionslosigkeit bedeutete für Bonhoeffer die Theorielosigkeit von Religion, weniger ein totales Verschwinden von Religion im Sinne eines losen Verweisungszusammenhangs; b) Religion stand für Bonhoeffer im Gegensatz zu Leben, weil Religion, wie er sie vor Augen hatte, auf die Vertröstung auf das Jenseits oder auf die Innerlichkeit abzielte.
Ad a) Wenn auch Religion nicht aus dem Vokabular verschwunden ist, so bleibt als Gegenfrage zu prüfen, ob wir der Zeit von geschlossenen Religionskonzeptionen entgegengehen. Gibt es heute eine Religion, von der alle Facetten unserer Lebenswirklichkeit abhängen? Kann ein Religionsentwurf heute als archimedischer Punkt in Kirche und Theologie gelten? Fragen wie diese zu stellen, heißt sie zu verneinen. Bonhoeffers Prognose der »Ortslosigkeit von Religion« trifft mindestens zu, wo man religiöse Strömungen außerhalb von Theologie und Kirche vor Augen hat. Wer wollte behaupten, dass Strömungen wie »New Age« geschlossene Konzeptionen darstellten, die Entwürfen des 19. Jh.s vergleichbar wären? Was den binnenkirchlichen Diskurs angeht, wäre zu prüfen, ob eine latente Renaissance des Wortes Religion tatsächlich wieder zur Theoriebildung von Religion führt. »Nicht die Religion hat sich als Illusion erwiesen, sondern die Religionstheorie«, prognostizierte Hermann Lübbe43 schon vor 20 Jahren. Wenn das zutrifft, dann ist Bonhoeffer mit seiner Absage an die Religionstheorie seiner Zeit voraus gewesen.
Wir gehen einer »völlig religionslosen Zeit entgegen«, das heißt nach der vorliegenden Analyse: Wir gehen einer Zeit entgegen, in der nicht mehr alle Deutungen des Lebens von
einem Religionskonzept abhängen
. Trotz latenter Rückkehr des Religiösen gibt es wohl nicht mehr die eine Religion mit theoretischer Grundlage und absolutem Wahrheitsanspruch. Statt einen Religionsbegriff auszubilden, sollte im Sinne Bonhoeffers der konstruktive Impuls der Religionskritik lebendig bleiben, ja auch und gerade, wo Religion eine Renaissance erlebt.
Ad b) Vielleicht ist unsere Zeit in manchem Diltheys und James’ innerer Verbindung von Leben und Religion näher; jedenfalls erscheint Religion nicht im Zusammenhang von lebensfremd: »Religion« und »Fülle des Lebens« sind keine Gegensätze mehr. Überhaupt scheint Religion heute kaum mehr geeignet, eine Wirklichkeit zu beschreiben, die jenseits des gelebten Lebens steht. Mit der Religion kehrt zumindest nicht der Glaube an einen Gott der Jenseitsvertröstung oder der reinen Innerlichkeit zurück. Könnte man argumentieren, dass Bonhoeffers religionskritischer Impuls »Religion als Metaphysik oder Innerlichkeit« in Theologie und Kirche längst verarbeitet ist? Die Frage zu stellen, bedeutet sie zu bejahen.44 Es spricht vieles dafür, dass der kritische Grundtenor heute geteilt wird; nur: Am Wort Religion wird wieder festgehalten. Wir gehen einer »völlig religionslosen Zeit entgegen«, das hieße dann: Wir gehen einer Zeit entgegen, in der von Gott nicht mehr an den Rändern oder der reinen Innerlichkeit gesprochen wird. Wer wollte bestreiten, dass das so ist? Die Wiederkehr von Religion in Theologie und Kirche steht daher nicht im Widerspruch zur Tegeler Theologie. Im Gegenteil: Bonhoeffers religionskritischer Impuls könnte zur qualitativen Schärfung der neuen Rede von der Religion beitragen.
Und so verstehe ich Dietrich Bonhoeffers Entwurf als Ermutigung, auf dem »Markt der Möglichkeiten«, dem so genannten Pluralismus, die Stimme der Kirche selbstbewusst einzubringen, nicht dominierend, aber hörbar; eine Stimme, die erklingt aus der »Polyphonie« des christlichen Lebens: Sie kommt aus dem anbetenden Schweigen vor dem Heiligen einerseits und dem nichtreligiösen Bekennen vor der Welt andererseits. Vieles deutet darauf hin, dass es auf diese Stimme zu Beginn des 21. Jh.s wieder neu ankommen wird.

Summary
There were many answers given on the subject of religionless Christianity in the past. In explaining what religionless Christian ity might have meant, most interpreters tend to ignore the methodological problem that Bonhoeffer neither gives a definition of religion in any of his writings nor does he establish what is called a theory of religion. Dietrich Bonhoeffer himself aims to overcome religion, and the phenomena that are associated with this term. He aims at »life« not at »religion«.
His intention is to relate Jesus Christ to »life that has come of age«. Thus the problem of religionless Christianity must no longer be discussed in the framework of the »Dialektische Theologie« but against the background of the »Lebensphilosophie« of the late 19th and early 20th century (Ortega y Gasset, Wilhelm Dilthey) which highly influenced Bonhoeffer’s view of life in 1944.

Fussnoten:

1) Brief vom 5.5.1944, »Widerstand und Ergebung. Neuausgabe«, hrsg. v. E. Bethge, 3. Aufl. 1985, 313 (im Folgenden zitiert: WEN).
2) Vgl. den kritischen Überblick über »Vier Jahrzehnte ökumenischer Bonhoeffer-Interpretation«, in: R. K. Wüstenberg, Glauben als Leben. Dietrich Bonhoeffer und die nichtreligiöse Interpretation biblischer Begriffe, Frankfurt a. M. u. a. 1996, 257–346 (engl. 1998). Zur neueren und neuesten Literatur vgl. E. Feil (Hrsg.), Streitfall »Religion«. Diskussionen zur Bestimmung und Abgrenzung des Religionsbegriffs, Münster u. a. 2000, sowie die »Bonhoeffer-Jahrbücher«, besonders den Jahrgang 2003 (hier etwa K. B. Nielsen, Überlegungen zum Religionsverständis Dietrich Bonhoeffers: Zwischen Kritik und Konstruktion, 93–106) sowie A. Dennecke, Das Leben »nicht-religiös« interpretieren. Dietrich Bonhoeffers nichtreligiöse Interpretation im 21. Jahrhundert, in: PTh 2004 (93,1), 32 ff.
3) Vgl. A. MacIntyre, God and the Theologians, in: Encounter 21, Nov 1963, 3–10, Beleg 3.
4) Vgl. A. E. Loen, Säkularisation. Von der wahren Voraussetzung und angeblichen Gottlosigkeit der Wissenschaft, 1965, 205 ff. (engl.: Secularization. Science without God?, London 1967, 188 ff.).
5) Vgl. B. Jaspert, Frömmigkeit und Kirchengeschichte, 1986, 76 f.
6) Vgl. J. MacQuarrie, God and Secularity, New Directions in Theology Today III, 1968, 72 ff.
7) Vgl. W. Hamilton, A Secular Theology for a World come of Age, in: Theology Today 18, 1962, Beleg 440; vgl. auch J. A. T. Robinson, Honest to God, London 1963 (22. Aufl. 1991).
8) Vgl. C. B. Armstrong, Christianity without Religion, in: CQR 165, 1964, 175–184; M. D. Hunnex, Religionless Christianity: Is it a New Form of Gnosticism?, in: Christianity 10, 6, Jan 7, 1966, 7–9.
9) Vgl. P. van Buren, The Secular Meaning of the Gospel. Based on an Analysis of its Language, London 1963.
10) Vgl. K. M. Kodalle, Dietrich Bonhoeffer. Zur Kritik seiner Theologie, 1991.
11) Vgl. E. C. Bianchi, Bonhoeffer and the Church’s Prophetic Mission, in: Theological Studies (Baltimore) 28, 1967, 801–811.
12) Vgl. G. Krause, Art. ›Bonhoeffer, Dietrich‹, in: TRE VII, 198l, 55–66. Er weist wiederholt Begriffe Bonhoeffers als bloß aus anderen Quellen übernommen und sekundär aus, vgl. etwa art. cit. 64, Anm. 1 und 6.
13) Diese Meinung gibt Chr. Gremmels, Religionslosigkeit?, in: Bonhoeffer-Rundbrief 76 (2005), 24, wieder.
14) D. Jenkins warnte schon 1962 davor, dass die Rede von der ›Religionslosigkeit‹ nicht zu einem ›Slogan‹ verkommen dürfe. J. Mark (Bonhoeffer Reconsidered, in: Theol, Nov 1973, No 641, 586–593) mahnte an, dass die These von der Religionslosigkeit nicht zu einem »springboard« gemacht werden dürfe, auf dem sich nahezu jede Theologie artikulieren könne. S. Plant (The use of the Bible in Bonhoeffer’s ethics, unpublished PhD thesis, Cambridge 1993) beobachtete, dass seit den 50er Jahren die Forderung einer »nichtreligiösen Interpretation« zu einem ›Slogan theologischer Trends‹ werde.
15) T. F. Torrance, Cheap and Costly Grace, in: God and Rationality 1971, Ch 3, 56–85, Zitat 74.
16) G. Ebeling, Die ›Nicht-religiöse Interpretation biblischer Begriffe‹, zuerst in: ZThK 52, 1955, 296–360; ich zitiere nach: Mündige Welt Bd. II, 1956, 12–73, Zitat 20 f. (engl.: The ›non-religious‹ interpretation of biblical concepts, in: Word and Faith, Philadelphia 1963, 98–161).
17) Vgl. etwa die Seminararbeit »Luthers Stimmungen gegenüber seinem Werk in seinen letzten Lebensjahren. Nach seinem Briefwechsel von 1540–1546«, in: DBW 9, 271–305, bes. 300; oder: »Referat über historische und pneumatische Schriftauslegung«, in: a. a. O., 305–323, bes. 305 f.321.
18) »Sanctorum Communio«, DBW 1 (1986), etwa 69.79.97.174; vgl. im Blick auf F. Schleiermacher 102 n. 18.
19) Vgl. ausführlich R. K. Wüstenberg, Glauben als Leben, 31–66.
20) »Die Systematische Theologie des 20. Jahrhunderts«, Vorlesung aus dem Wintersemester 1931/32, in: GS V, 181–227, Beleg 219 (Hervorhebung im Zitat von mir).
21) Es spricht viel dafür anzunehmen, dass Bonhoeffers Einwand des Offenbarungspositivismus gegenüber Karl Barth sich an dessen Versuch der Reintegration von Religion in sein theologisches Gesamtkonzept mit § 17 der KD I,2 entzündet; vgl. hierzu R. K. Wüstenberg, Der Einwand des Offenbarungspositivismus. Was hat Bonhoeffer an Barth eigentlich kritisiert?, in: ThLZ 121 (1996), 997 ff.
22) A. Pangritz, »Aspekte der ›Arkandisziplin‹ bei Dietrich Bonhoeffer«, in: ThLZ 119 (1994), 755–768, Beleg 765.
23) K. Barth, Das Wort Gottes und die Theologie, München 1924, 94 (Gesammelte Vorträge I).
24) K. Barth, Der Römerbrief, Zürich 13. Aufl. 1984, Beleg 236.
25) Vgl. etwa »Sanctorum Communio«, DBW 1, 97; hier bezeichnet Bonhoeffer Jesus als »Gründer einer Religionsgemeinschaft«. Ganz ähnlich kann A. Ritschl, Rechtfertigung und Versöhnung III, Bonn 1888, 508, sagen: »Jede gemeinsame Religion ist gestiftet.«
26) Vgl. »Akt und Sein«, DBW 2, 51; Bonhoeffer betrachtet hier eine Inkonsequenz im philosophischen Ansatz seines Lehrers R. Seeberg. Die Rede vom religiösen Apriori ist für Bonhoeffer mit der Gleichung von Offenbarung und Religion verbunden und damit letztlich mit der Identitätsphilosophie des Deutschen Idealismus.
27) In den Prolegomena zum »Unterricht in der christlichen Religion« reflektiert Barth den Religionsbegriff als geschichtliches Phänomen: »Seit 200 Jahren« habe das »Wort Religion« seine Bedeutung erhalten. Barth bekennt: »Ich kann das Wort Religion nicht mehr aussprechen ohne die widerwärtige Erinnerung, daß es nun einmal tätsächlich in der neueren Geistesgeschichte die Flagge ist, die den Zufluchtsort anzeigt, wohin sich die protestantische … Theologie … zurückzuziehen begann« (zitiert nach der Karl Barth Gesamtausgabe 17/II, Zürich 1985, 224).
28) Vgl. R. K. Wüstenberg, Eine Theologie des Lebens. Dietrich Bonhoeffers theologische Rezeption Wilhelm Diltheys, in: Dilthey-Jahrbuch 2000, 260–270.
29) Vgl. etwa W. James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung, (deutsch von E. Herms) Olten 1979, 462: »Die Liebe zum Leben … ist der religiöse Impuls.«
30) Bonhoeffer kritisiert am pragmatistischen Religionsbegriff: Die »Wirksamkeit Gottes« kann nicht seiner »Wirklichkeit« vorgeordnet werden (DBW 10, 668).
31) Unabhängig voneinander haben zuerst auf die Dilthey-Rezeption Dietrich Bonhoeffers hingewiesen: Chr. Gremmels, Mündige Welt und Planung (Diss. 1970), sowie E. Feil, Die Theologie Dietrich Bonhoeffers, München (1971) 4. Aufl. 1991.
32) Vgl. W. Dilthey, Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation.
33) Vgl. W. Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften (= Gesammelte Schriften Bd. I), 138: »… ausgeschlossen also ist das historische Verständnis eines religionslosen Zustandes«.
34) »Ethik«, DBW 6, 71.
35) Vgl. das Ethik-Manuskript »Erbe und Verfall«, in: DBW 6, 93 ff., Beleg 113 f.
36) Vgl. W. Dilthey, Gesammelte Schriften VIII, 224; in Anlehnung an Dilthey möchte Ortega y Gasset nicht dem subjektiven Zug einer begriffslosen Lebensphilosophie erliegen und gewinnt in der Geschichte den objektiven Maßstab zur Betrachtung des Lebens.
37) Vgl. WEN 331 f.340 f. Der Begriff ist ihm aus der Musiktheorie wichtig geworden; vgl. hierzu A. Pangritz, Polyphonie des Lebens. Zu Dietrich Bonhoeffers ›Theologie der Musik‹, Berlin 1994.
38) Vgl. W. Dilthey, Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation (= Gesammelte Schriften II), z. B. 17.18.20. 43.50. Vgl. zu den tragenden Begriffen der Lebensphilosophie O. F. Bollnow, Dilthey. Eine Einführung in seine Philosophie, 4. Aufl. 1980, 33 f. 43 ff.101 ff.
39) W. Dilthey, op. cit., 280; hier auch der Beleg für den »Rechtsbegriff als Lebensbegriff«. Vgl. zur Herkunft der lateinischen Zitation bei Bonhoeffer »etsi deus non daretur« in meinem Buch »Glauben als Leben«, 133, n. 1.
40) Vgl. etwa »Streitfall: Religion?« Hrsg. v. E. Feil, 2000, sowie Beiträge im »Bonhoeffer-Jahrbuch 2003«.
41) Chr. Gremmels, Religionslosigkeit?, in: Bonhoeffer-Rundbrief 76 (2005), 24.
42) Als ich 2002 am Union Theological Seminary, New York, ein Seminar über die »nicht-religiöse Interpretation« hielt, war für die amerikanischen Theologiestudenten diese politische Implikation der Religionskritik Bonhoeffers zentral.
43) H. Lübbe, Religion nach der Aufklärung, Darmstadt 1986, 14.
44) Vielleicht wäre es im Sinne der Gegenprobe lohnenswert, gegenwärtige religionspädagogische oder homiletische Entwürfe daraufhin durchzusehen, ob dort ein Religionskonzept der Innerlichkeit oder Metaphysik vertreten wird.